November 2000

Das Vergessen der Bestialität in der Schönheit der Ruinen

Arbeiten von Stephan Velten in der Ticket-Galerie

Wer Stephan Velten denkt, denkt an Malerei, oft genug an großformatige Bilder von einer brachial-geheimnisvollen Aura, die in mythischer Aufgeladenheit des Betrachters Aufmerksamkeit erheischt. In seiner neuen Ausstellung „Strandungen“ sind zum ersten Mal neben dieser Art von Malerei Installationen mit Keramiken zu sehen. Doch auch hier bleibt Velten bei seinem Thema: Was bleibt vom menschlichen Individuum in Zeiten katastrophaler Entwurzelung?

Seine bildnerischen Phantasien lassen uns den Blick eines Archäologen imaginieren, der wie verzaubert auf die ausgegrabenen oder angespülten Reste einer Zivilisation schaut, um seine Schlussfolgerungen auf die untergegangene Lebensweise unserer Vorfahren daraus zu ziehen. Velten drapiert seine Installationen aber auch wie eine museale Inszenierung, die etwas Sensationelles bieten will, um zum Besuchermagnet zu werden. In hochbeinigen Stahlvitrinen oder auf ebensolchen Stahltischen werden die nicht selten durch Bemalung metallisch scheinenden Keramiken auf dunkel dräuendem, stumpfschwarzem Lavakies drapiert (oder sagen wir besser genüsslich arrangiert). Der Kontrast zwischen dem Untergrund und den Kunststücken aus gebrannter Erde hypertrophiert die ästhetisierende Zur-Schau-Stellung der nachempfundenen Fundstücke. Wer sich da nicht an ironische Hintergründigkeit gemahnt sieht, der verkennt, dass Velten einen manchmal geradezu schwarzen Humor zu pflegen versteht, der sich hinter einer so vordergründig gebärdenden, auf den ersten Blick pathetischen Archaik (manchmal vielleicht zu gut) verbergen will. So persifliert die Ausstellung mit hinterhältigem Grinsen wohl auch unsere Art, die Vergangenheit geschmäcklerisch aufbereitet zu genießen, um sie ja nicht bewältigen zu müssen.

Besser noch als in seinen Keramiken demonstriert Velten diese Einsicht in die sich wissenschaftlich kostümierende Weise, sich der Herausforderung Vergangenheit zu entziehen, in seiner Installation „Zwischenlager Museum“. Er reiht 28 Zip-lock-Beutel aneinander, in denen Ausschnitte von Reproduktionen bekannter Bildwerke, fein säuberlich gezeichnete Grundrisse von historischen Gebäuden und steinerne Fundstücke aus der Urzeit des Menschen wahllos summiert zusammengesteckt sind. Das Museum wird als überforderte Institution karikiert, die sich in bloßer Verwaltung der auf uns gekommenen Zeugnisse verliert.

Velten weiß, die Schönheit des Morbiden zieht uns an, weil wir auch gern im Schauder der Ruinen verklärend schwelgen, wohlig verdrängend die oft genug unvorstellbare Bestialität, die solche Ergebnisse zeitigt. Die von den Nachgeborenen entdeckten und registrierten Ergebnisse des Schreckens erinnern diese oft genug nicht an jenen, sondern sind nicht selten genug Material zu dessen Verklärung und Mystifizierung, wenn all die das Zeitliche gesegnet hat, die den realen Schrecken noch erlebt haben. Die Ruinen wecken nämlich oft genug nicht die Erinnerung an den Untergang, sondern produzieren ein sehnsüchtiges Schwelgen über die häufig nur angenommene Größe einer Vergangenheit, deren zivilisatorische Höhe eigentlich nie mehr zu erreichen sei. Ja, im Barock wurde es gar eine mehr als groteske Mode unter den Herrschenden, künstliche Ruinen aufzubauen, um sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst zu sein. Dass sich die Herrscher, die dieser Mode frönten, in Demut schickten, kann getrost in das Reich der Legende abgetan werden. Die Attitüde überdauerte.

Velten spielt in seinen Installationen mit diesem romantischen Gefühl, dass mindestens seit jenen Zeiten des Barocks bei uns Menschen wohl nie nachgelassen hat. Der Betrachter phantasiert in die Keramiken Bilder von zerstörten, verkohlten Behausungen, zerborstenen Helmen und anderen Körperrüstungen. In uns steigen Bilder von Menschen- und Tierschädeln, zerbrochenen Gefäßen und gekenterten und zerschellten Wasserfahrzeugen auf. Und wer sich in der Ausstellung verliert, dem läuft manchmal ein wohliges Frösteln über den Rücken. Doch letztendlich erstickt in den Keramiken die oben beschriebene Ironie unter der hochartifiziellen (oder sollte man lieber sprechen von hyperartifiziellen?) Ästhetisierung der wirklich beeindruckenden Skulpturen und Skulpturensembles. Die Ironie kann sich letztendlich nicht durchsetzen und kann nicht wirklich dem schönfärbenden Romantizismus im Künstler selbst bzw. im geneigten Betrachter Paroli bieten. Und doch ist das Anschauen dieser Installationen bei all ihrer oder vielleicht wegen all ihrer Ambivalenz ein Ereignis, das sich Kunstliebhaber nicht entgehen lassen sollten, weil sie einen in ihrer unbestrittenen künstlerischen Originalität und gestalterischen Raffinement gedanklich so bald nicht loslassen wollen.

Seine zu den Installationen ausgestellten, großformatigen Bilder dagegen – die in dieser Zeitung oft genug in höchsten Tönen besungen wurden – vermögen trotz aller in der Kunst nun einmal unabdingbaren Ästhetisierung Schmerz, Bestialität und zerstörerische Herabwürdigung im menschlichen Sein äußerst unmittelbar sinnfällig werden zu lassen.

Frank Jast, 05.11.2000